Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren? (Vincent Van Gogh)


Paulchen und Oliver
Paulchen Langohr lief so schnell er konnte nach der Schule nach Hause. „Mama, wenn ich groß bin werde ich Osterhase oder ein Fuchs.“
„Aber Paulchen, was redest du denn da? Wie willst du denn Osterhase werden? Der lebt doch im Osterhasenland und nicht hier bei uns auf dem Rübenfeld oder im Wald.“ Frau Langohr sah ihren Sohn lächelnd an. „Und Fuchs kannst du nicht werden, weil du ja ein Hase bist.“
„Aber Mama, hör doch zu. Ich habe gerade den Herrn Zickzack-Ohr getroffen. Und der hat gesagt, man kann alles werden was man will. Alles. Am liebsten würde ich ja beides werden: Osterhase und Fuchs.“
„Du weißt aber schon, warum der Herr Zickzack-Ohr so heißt, oder?“
„Ja, weil er manchmal komisch ist und er sich freiwillig auf den Feldweg gelegt hat um zu beweisen, dass er den Traktor anhalten kann.“
„Und hat er es geschafft?“
„Nein, Mama.“
„Und wie ist die Geschichte ausgegangen?“
„Der Traktor ist ein bisserl über seine Ohren drübergefahren. Wenn Papa nicht gewesen wäre, läge er heut noch dort. Aber der Papa hat ihn heimgetragen und du hast seine Ohren mit Wiesenkräuter behandelt und verbunden. Und seither sind seine Ohren so komisch verbogen. Eben zickzack.“
„Und was lernen wir daraus?“
„Nicht alles, was wir glauben, dass wir es können, können wir auch. Überall lauern Gefahren, besonders für uns Hasen.“
„Genau. Und deswegen: keine Experimente, mein Sohn. Und weißt du, eine Blume wird auch niemals ein Baum sein, weswegen ein Hase auch kein Fuchs sein kann. Verstehst du das?“
„Ja, Mama.“ Paulchen drehte sich um und ging mit hängendem Köpfchen wieder hinaus vor den Hasenbau.
„Paulchen, was ist mit dir?“ Susi Breitzahn stand plötzlich vor Paulchen. Sie hatte sich den langen Stängel einer Blume wie eine Kette um den Hals gewickelt, deren hübsche gelbe Blüte nun wie eine kostbar Brosche ihre kleine Hasenbrust zierte.
„Ach Mama ist so gemein. Sie sagt, ich kann kein Osterhase werden, weil ich hier lebe und nicht im Osterhasenland. Und ein Fuchs kann ich auch nicht sein. Dabei haben die so ein schönes rotes Fell und einen wunderhübschen buschigen Schweif.“
„Oh, das ist ja traurig. Meine Oma hat mir erzählt, dass es erst einem Feldhasten gelungen ist, Osterhase zu werden. Und das auch nur durch Zufall. Das war unser Nachbar, der Herr Nagezahn. Der ist einfach so lange durch die Gegend gelaufen, bis er im Osterhasenland war. Und weil er schon so müde war und die Osterhasen ihn für seine Ausdauer und seinen Mut bewundert haben, durfte er bleiben. Das ist auch der Grund, warum ihn nie wieder wer gesehen hat.“
„Echt?“
„Ja. Aber Oma sagt, sie wundert sich, wie er das geschafft hat. Da Draußen gibt es ja Wölfe und Füchse und Adler und …“
„Ich weiß. Die wollen uns alle fressen. Das hat mir mein Papa erzählt.“
„Keine Ahnung, wieso die nicht auch so wie wir Karotten oder Gänseblümchen mögen.“ Susi kicherte.
Paulchen hörte seine Mutter rufen. „Ich muss jetzt heim, es gibt gleich Essen.“
„Bis morgen in der Schule, Paulchen.“
„Ja, bis morgen.“
In der Nacht, als seine Eltern und seine sieben Geschwisterchen schliefen, schlich sich Paulchen ganz leise wieder hinaus. Hoch droben am Himmel leuchtete hell der pralle Vollmond und abertausende Sterne funkelten um die Wette. Paulchen seufzte.
„Warum so traurig, junger Mann?“ wisperte da plötzlich eine Stimme aus dem dunklen Gebüsch vor ihm.
Paulchen erschrak. „Wer bist du? Was willst du?“
Aus der Finsternis trat ein junger Fuchs hervor. „Ich will nur ein wenig plaudern. Wieso bist du traurig?“
„Du bist ein Fuchs, nicht wahr? Und du willst mich fressen.“
„Aber nein. Ich hab heut schon genachtmahlt. Also keine Sorge deswegen.“ Das Füchslein kicherte. „Mir ist nur ein wenig langweilig, ich kann einfach nicht einschlafen. Deswegen streife ich ein wenig durch die Gegend. Aber Psst, meine Eltern dürfen nichts davon erfahren.“
„Sind die auch so streng wie meine?“
„Noch strenger. Ich heiße übrigens Oliver.“
„Ich bin Paulchen.“
„Also, warum seufzt du so, Paulchen.“
„Ich möchte gerne Osterhase werden. Aber meine Mama sagt, dass das nicht geht. Dann wollte ich ein Fuchs werden, so wie du. Aber das geht auch nicht, sagt sie.““
„Oh. Verstehe. Das ist aber auch sicher nicht einfach, das mit dem Osterhasen meine ich. Und ein Fuchs willst du sein? Da bin ich auch überfragt, wie das gehen soll. Stell dir vor, ich wäre morgen plötzlich ein Hase. Hihihi! Da würdest du aber schaun.“ Er kicherte. „Ich möchte Traktorfahrer werden. Meine Eltern haben auch gemeint, Hasen fahren nicht mit dem Teufelszeug der Menschen. Aber das glaube ich ihnen nicht. Denn das kann nun wirklich nicht so schwer sein.“
„Traktorfahrer?“
„Ja, da sitzt du ganz hoch droben und kannst alles überblicken, bist gaaanz mächtig und musst nicht selber laufen.“
„Ja, das klingt echt gut.“ Paul kratze sich am Ohr. Das tat er immer, wenn er aufgeregt war.
„Ja, nicht wahr?“
„Hm, was sollen wir also tun?“
Oliver kniff die Augen zusammen und überlegte. „Wir könnten es doch zumindest versuchen, oder? Treffen wir uns doch einfach morgen wieder hier und schleichen uns auf den Bauernhof. Und dann probieren wir, ob wir Traktor fahren können. Was meinst du?“
„Ja, das machen wir.“
„Abgemacht, bis morgen also.“
„Hallo, Oliver.“ Paulchen gähnte. Eigentlich war er total müde. Aber abgemacht war abgemacht.
„Hallo, Paulchen.“ Auch Oliver sah müde aus. „Komm wir schleichen uns hinüber zum Bauernhof.“
„Aber die haben doch diesen großen Hund. Glaubst du, der tut uns was?“
„Severin? Nein, der ist schon so alt. Der kennt mich und spielt immer mit mir.“
„Echt?“
„Ja, wenn ich es dir doch sage.“ Oliver lief los, Paulchen hoppelte ihm hinterher. Als sie auf dem Hof ankamen, kam ihnen schon der alte Hofhund Severin entgegen.
„Seid vorsichtig. Meine Leute haben mir so einen Jungspund vor die Nase gesetzt. Eine gewisse Clementine. Ich trau ihr nicht“, flüsterte er Oliver zu. „Und wenn man schon vom Teufel spricht.“ Er zeigte mit seiner Vorderpfote auf ein Hundebaby. „Schau mal, Clementine. Das hier sind Freunde von mir. Das ist Oliver und der hier heißt.“ Er sah Oliver fragend an.
„Das ist Paulchen“, ergänzte Oliver und verbeugte sich höflich vor Clementine.
„Fuchs. Das ist ein Fuchs“, fiepte die Kleine.
„Nur ein Füchslein. Ein Freund.“ Severin umschlang die kleine Hündin mit seinem Schweif. „Siehst du, Freunde.“ Er kitzelte Oliver, der auch prompt loskicherte.
„Füchse fressen Hühner, hat Mama gesagt.“ So schnell gab sich Clementine nicht geschlagen.
„Nicht dieser Fuchs. Vielleicht andere. Aber Oliver nicht.“
„Hasen sind eine Plage und fressen das ganze Gemüse vom Acker“, fiepte die kleine Hündin. „Vielleicht sollten wir besser laut bellen, damit Herrchen kommt“, überlegte sie laut.
„Dieser Hase nicht. Das ist Paulchen, der frisst unser Gemüse nicht. Nicht wahr, Paulchen?“ Streng sah Severin den Hasen an.
„Selbstverständlich nicht.“
„Na gut.“ Clementine schnüffelte an den Besuchern. „Ihr riecht gut. So nach Kräutern und Erde.“
„Severin, wo hat der Bauer seinen Traktor hingestellt? Ich möchte doch so gerne einmal damit fahren.“ Oliver grinste Severin frech ins Gesicht. „Du weißt schon, nur einmal um den Acker und wieder zurück.“
„Aber der hört den Traktor doch, wenn du mit dem fährst. Der ist ja mordslaut.“ Severin schüttelte den Kopf.
„Bitte, Severin.“
„Na gut. Aber ich war es nicht, verstanden?“ Severin ging auf ein großes Gebäude zu. „Da drinnen. Kommt, ich zeig ihn Euch. Ich schlafe zufällig da drinnen, hab sogar meinen eigenen Eingang.“ Stolz zwängte er sich durch einen Einlass in der Wand. Die Freunde und die kleine Hündin folgten ihm.
„Ich wohne jetzt auch da“, fiepte Clementine. „Gleich neben Severin. Und wenn es ganz finster ist, dann kuschle ich mich ganz eng an ihn.“
„Wirklich?“ Oliver grinste Severin an.
„Na ja, sie ist ja noch so klein. Ich bin halt so was wie ihr Großvater, wenn du verstehst.“ Er zeigte auf ein großes Monster vor sich. „Bitte, der Traktor.“
„Oh, ist der hoch.“ Paulchen sah hinauf zur Fahrerkabine. „Wie willst du denn da hochkommen?“ Aber da saß Oliver schon in der Fahrerkabine und winkte. Freudig wedelte er mit seinem Schweif.
„Und wie funktioniert das so?“ Oliver sah auf die vielen Knöpfe und Hebel und ihm wurde nun doch ein wenig mulmig zumute.
„Der Bauer hat so ein Schlüsseldings. Wenn der steckt, musst du nur den großen schwarzen Knopf drücken und dann geht’s los. Ich darf nämlich manchmal mitfahren“, erklärte Severin stolz.
„Ein Schlüsseldings?“
„Ja, die Frau schimpft immer mit ihm, wenn er ihn nicht mit ins Haus nimmt. Sie sagt, der Traktor wird noch einmal gestohlen wenn er so schlampig ist.“
„Na sowas aber auch.“ Oliver lachte und die anderen stimmten mit ein. „Ich drücke jetzt den großen schwarzen Knopf. Mal schaun, ob der Schlüssel steckt.“ Gesagt getan. Plötzlich ein Rütteln und Schütteln, Getöse und Gebrumme. Der ganze Traktor wackelte und ratterte. „Was jetzt? Was jetzt?“, schrie Oliver.
„Den langen Hebel nach vorne schieben, auf eines der Pedale am Boden treten und los geht’s!“, brüllte Severin.
Der Traktor kreischte und quietschte. Es war, als wollte er sich aufbäumen. Vor Schreck sprang das Füchslein auf den Boden der Fahrerkabine mitten auf eines der Pedale. Der Traktor machte einen Satz nach vorne, direkt auf die Scheunenwand zu.
„Bremsen! Bremsen!“, schrie Severin.
„Wie denn?“
„Das andere Pedal!“
„Ja, was ist denn da los?“ Die Bauersleute standen in der Garagentür.
„Da ist ein F…“, wollte Clementine bellen, aber Severin hielt ihr die kleine Schnauze zu.
„Pst, wir verraten keine Freunde.“ Und dann bellte er ganz laut, ganz so, als wären sie auch eben erst durch den Lärm wach geworden. Clementine kläffte so laut sie konnte, vermied dabei aber direkt auf den Fuchs hinzuweisen. Schließlich war der ja jetzt ihr Freund.
„Eberhard, hol dein Gewehr. Da will jemand unseren Traktor stehlen. Hast du schon wieder den Schlüssel stecken lassen?“
„Ich? Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht. Mach doch mal Licht.“
Der ganze Raum war plötzlich hell erleuchtet. Der Bauer sah gerade noch wie ein Hasenschwänzchen bei der Tür hinaushoppelte. Knapp dahinter sah man den prächtigen Schweif eines Füchsleins wie er durch das Mauerloch entwischte.
„Such, Severin, such! Los, Clementine, hilf dem Severin!“, schrie der Bauer.
„Komm mit“, zischte Severin seiner kleinen Hundekollegin zu. „Wir tun jetzt so, als würden wir sie fangen wollen. Aber wir fangen sie nicht wirklich. Hast du verstanden?“
„Ja.“ Eifrig rannte das kleine Hundemädchen hinter ihm hinaus auf den Hof und bellte was das Zeug hielt. Sie rannte hin und her und auf und ab und bellte und bellte und bellte.
„Clementine, ruhig.“ Der Bauer rief sie zur Ordnung, streichelte sie. „So eine brave Maus. Ja, so eine tolle Hofhündin. Brav.“ Dann tätschelte er den alten Severin. „Na, mein Alter. Du hast es ja noch drauf. Super gemacht.“
„Was war das jetzt? Ein Hase und ein Fuchs, die unseren Traktor stehlen wollten?“ Die Bäuerin keuchte. Sie war noch immer ganz außer Atem von der Aufregung.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ja.“ Die beiden sahen sich an und brachen schließlich in lautes Gelächter aus. „Ich werde morgen in die Werkstatt fahren. Vielleicht hat`s da was mit der Technik. Diese modernen Dinger machen ja schon alles alleine. Vielleicht fahren die jetzt auch schon ohne Fahrer.“ Lachend verschwanden sie im Haus.
„Puh, das war knapp.“ Paulchen lehnte sich an einen Baum.
„Ja. Aber hast du das gesehen? Ich habe den Traktor an die Wand gefahren.“ Oliver gluckste glücklich.
„Ja, du hast es tatsächlich geschafft. Und wenn der Bauer nicht gekommen wäre, wären wir jetzt sicherlich noch unterwegs mit dem Traktor.“
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​​​​​„Also wenn ich das meinen Freunden erzähle.“
„Und morgen erkunden wir ein wenig die Gegend. Nur bis zum Bach und wieder retour. Vielleicht finden wir ja zufällig eine Spur vom Osterhasen“, schlug Oliver vor.
„Ja, das machen wir!“ Paulchen hüpfte vor Freude in die Höhe. „Bis morgen!“